Predigt zu Genesis 50, 15 – 21

Unglaublich, was in den sieben Versen steckt. Sie bilden den Abschluss der Josefgeschichte im 1. Buch Mose Kap. 37 – 50. Die Hauptrolle spielt Josef, die Nummer elf von den zwölf Söhnen Jakobs. Der Liebling des Vaters, der Träumer, der Visionär mit dem Spleen.

Immer wollte er etwas Besonderes sein und – er war es auch. Zunächst aber war er der Handlanger seiner Brüder. Die waren neidisch auf ihn. So aussehen wie er, so beliebt sein. Vielleicht hätten wir ihn um seine Träume beneidet….

Als sich eine Gelegenheit bietet, planen sie ihn zu töten. Der älteste Bruder Ruben verhindert das Schlimmste. Also verkaufen. Hinunter in die Zisterne und dann ab nach Ägypten mit der erst besten Karawane. Dort steigt Josef auf, über viele Stufen ganz nach oben. Er wird erster Mann im Staat, Vertreter des gottgleichen Pharao.

Und irgendwann kehrt mit den Brüdern seine Lebensgeschichte zurück. Die kommen nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Der Hunger treibt sie Josef in die Arme. Sie wissen nicht, wen sie vor sich haben. Er hat die Macht. Er lässt sie zappeln. Irgendwann war es dann genug mit dem Versteckspielen. Die Familie wird wieder vereint. Der alte Vater kommt, sieht seinen Sohn, segnet seine Enkel und stirbt in Frieden.

Und dann? Ich lese den Predigttext: Gen 50, 15 – 21.

Nach dem Tod des Vaters wird es den Brüdern bewusst. Jetzt ist der weg, der sie alle zusammengehalten hat. Den Frieden gestützt, der eigentlich keiner war. Jetzt könnte die Stunde der Vergeltung schlagen.

Sie schicken eine Botschaft zu Josef. Der Vater soll gesagt haben: Josef solle es ihnen nicht heimzahlen und keine Rache üben. Nichts davon findet sich übrigens ind er Josefgeschichte. Aber wer von uns hat nicht schon einen anderen zitiert, um den eigenen Gedanken Gehör zu verschaffen.

Josef weint, als er diese Worte hört. Schon wieder. Auch an anderer Stelle hat Josef geweint. Es scheint sich aber etwas verändert zu haben. Er schämt sich nicht mehr seiner Tränen. Er versteckt sie nicht. Josef weint. Er lässt sich berühren, verbietet sich nicht das lebendige Herz. Er nimmt die Gabe der Tränen an.

Was könnte es sein, das ihn berührt? Ist es das Angebot seiner Brüder, seine Knechte zu werden. Ist es ihre Einsicht in das Unrecht, das sie ihm getan haben? Oder kommt ihm zum Bewusstsein, dass auch er selbst Menschen ungerecht und hartherzig behandelt hat.

Für mich liegt nahe: Josef weint, weil er berührt ist. Vom Leben, von Gott und seiner Güte. Er entdeckt, dass Gottes Segen sich durch sein Leben zieht. Unverdient, unverfügbar. Manchmal verdeckt. An Widerständen und Anfeindungen hat es nicht gefehlt. Aber im Zurückblicken verblassen sie gegenüber dem Glanz der Güte Gottes.

Auch ich kenne solche Augenblicke. Ich bin berührt vom größeren Sein um mich und in mir. Von der göttlichen Liebe, die versöhnt und verbindet. Trotz allem. Diese Liebe ist stärker als das, was trennt.

Und dann kommt zentral, in Luthers Übersetzung fett gedruckt, der Satz: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen. Gott aber gedachte es gut zu machen. Liebe Gemeinde, dieser Vers hat mich nicht nur einen Moment zögern lassen. Kann ich bei meiner Verabschiedung diesen Text predigen?

Ich weiche auch heute dem aufgetragenen Wort nicht aus – dieses Satzes wegen. Denn es ist ja diese Geschichte so nah dran an unseren Geschichten, den Ihren und den meinen. So voller Brüche und Enttäuschungen, so voller Hoffnung und unverdientem Glück, so voller Ungewissheit über Morgen, so voller Sehnsucht nach Frieden. Josef – ein Beispiel für einen versöhnten Abschluss und einen dankbaren Blick zurück.

Vieles, was sich nicht gut für uns und die Gesellschaft auswirkt, geschieht durch Menschen. Gewollt oder ungewollt. Auch Strukturen, Umstände wie die Pandemie oder Krankheiten können gegen uns stehen. Aber es sind nicht nur die anderen, die Lebenshinderliches und Bedrohliches auf uns hetzen. Mit unseren Vorurteilen und Abwertungen, mit unseren Halb- und Hartherzigkeiten stehen wir selbst dem Leben im Weg, das für uns gewollt ist.

Noch einer fällt mir ein, lange nach Josef. Auch bei ihm sah es übel aus am Ende. Gott hat es zum Guten gewendet. Er war nicht ohne Erfolg, er tanzte auf mancher Hochzeit. Menschen waren begeistert, wollten ihn zum König machen. Er weigerte sich zu herrschen. Lieber wollte er sterben als die Liebe an die Gewalt verraten. Also ist er gestorben. Und Gott hat es zum Guten summiert, für ihn und durch ihn für uns alle.

Soweit konnte Josef nicht sehen. Übrigens auch er selbst, Jesus, nicht.

Gott wendet es zum Guten. Das darf nicht zur Formel sein und zum falschen Trost werden. Es entlässt uns Menschen nicht aus der Verantwortung für das, was wir denken, reden und tun. Es bleibt eine Spannung. Mit ihr leben wir. Ich kann sie nicht auflösen, ohne Gottes Unverfügbarkeit und des Menschen Würde zu verletzen. Ein jüdischer Lehrer, Rabbi Akiba, sagt: Alles ist vorhergesehen und die freie Wahl ist gegeben.

Es liegt ein Geheimnis des Glaubens darin, dass wir Gutes entdecken im Dazwischen. Kostbares finden unter Scherben. Wo es menschlich gesehen keinen Anlass zur Hoffnung gibt und wenig Grund zur Dankbarkeit. Viele Verse im Ersten Testament spiegeln diese Erfahrung wider. Sie sprechen in der Gefangenschaft – von der Hoffnung auf Befreiung, in der Angst – vom Dennoch des Vertrauens. Immer geht es über das Bestehende hinaus. So auch bei der Versöhnung: Ich lasse los, was mich festhält in Hass und Rache. Ich lasse mich berühren von dem, wonach ich mich sehne. Nennen Sie es Gott oder Frieden oder Liebe.

Daraus schöpft Josef seine Kraft zum versöhnten Abschied, zum Reden von Herzen. Fürchtet euch nicht. Allein aus einem versöhnten Herzen kann die Kraft dieser Worte fließen.

Das will uns als Gemeinde Jesu Christi hellhörig machen. Und demütig, von Gottes Volk und seinen Schriften zu lernen. So kann Gemeinde zum Ort der Heilung und Versöhnung werden – in langer biblischer Tradition. Ein Raum für Berührung – menschliche und göttliche. Ein Raum auch für Tränen. Menschen können das nicht machen, aber erbitten, geschehen lassen – und mitmachen.

Nun mein Schluss. Auch ich schaff ihn nicht ohne Tränen. Im Zurückschauen bin ich berührt, wie beschenkt ich bin, dieses Wort zu sagen, das tröstet und befreit, das widerständig macht und geborgen. Dankbar für alle Begegnung und Begleitung. Glücklich zur weltweiten ökumenischen Gemeinschaft zu gehören. Dankbar auch für das große Maß an Freiheit, das mir meine Familie und meine Freundinnen und Freunde zugestanden haben für diesen Weg. Gott hat es gut gemacht. Das lässt hoffen, dass er es auch in Zukunft gut machen wird. Im neuen Lebensabschnitt. Mit euch und eurer neuen Pfarrerin Dorothee Mack. Mit seiner Kirche und seiner Einen Welt.

Allein ist diese Hoffnung nicht durchzuhalten. Dazu braucht es Gemeinschaft, braucht es Kirche – und das Wort, das zusagt: Fürchtet euch nicht. Habt keine Angst. Solange wir dieses Wort haben, ist nichts verloren. Denn in ihm ist das Leben, immer jetzt. So war es und so wird es sein. In allen Veränderungen, in allen Abschieden und Neuanfängen.

Amen